Wer sind die Michaels in Deinem Leben?

Eines Tages, ich glaube es war in der 5.Klasse, habe ich aufgehört regelmässig Hausaufgaben zu machen.

Von heute auf morgen habe ich sie einfach nicht mehr gemacht. Sie stattdessen bei anderen Mitschülern abgeschrieben. Ich kann mich nicht erinnern, dass das anfangs irgendjemandem aufgefallen wäre. Weder Lehrern, noch meinen Eltern. In der Grundschule war ich einer der besten Schüler gewesen und bekam sogar einmal einen Preis als Klassenbester. Lernen machte mir Freude und ich war stolz auf meinen Erfolg.

Am Ende der 4.Klasse hatte ich nur super Noten und es war klar, dass ich aufs Gymnasium wechseln würde. Dort lief es die ersten Wochen eigentlich ganz normal. Die Noten waren nicht mehr super, sondern «nur» noch gut, aber natürlich war das jetzt ja auch ein anderes Niveau. Hatte meine Mutter das auch so gesehen? Irgendwie schon, denke ich und trotzdem kommt mir in der Reflektion dieser Zeit und der daraus resultierenden Entwicklung, ein Satz immer wieder in den Sinn: «Der Michael hat nur Einsen im Zeugnis».

Michael, der Sohn der Schwester meiner Mutter, super intelligent und wahrscheinlich hochbegabt. Ein paar Jahre älter als ich, Schachspieler und redete mit Fünfzehn über Dinge wie Molekularbiologie und Quantenphysik. Während ich happy war, beim Zauberwürfel eine Seite in einer Farbe hin zu bekommen, hat er den Würfel auswendig gelernt. Wahrscheinlich konnte er ihn im Dunkeln, mit beiden Händen hintern Rücken gefesselt, im Kopfstand lösen. Konnte er natürlich nicht, aber es hätte mich nicht verwundert. Ich glaube aber, es war ungefähr das, was meine Mutter verstanden haben muss, wenn sie mit ihrer Schwester redete. Gefühlt waren die Dialoge der beiden so:

Mutter: »Wie geht es Dir?»

Tante: «Der Michael hat eine Eins in Physik geschrieben.»

Mutter: «Der Stephan geht jetzt aufs Gymnasium.»

Tante: «Der Michael leitet jetzt die Physik AG, weil er mehr weiss, als sein Lehrer.»

Mutter: «Der Stephan hat am Wochenende zwei Tore geschossen.»

Tante: «Der Michael hat einen Schachcomputer gebaut, der gegen den Weltmeister gewonnen hat.»

Mutter: «Bei uns scheint heute die Sonne.»

Tante: «Ja, das hat der Michael heute in Biologie gemacht.»

Für meine Mutter, der die Meinung der Anderen immer sehr wichtig ist, war das natürlich schwierig. Ständig zu hören, wie toll der Sohn der Schwester ist, das machte etwas mit ihr. Irgendwie hat sie dabei wohl aus den Augen verloren, wie toll ihr eigener Sohn eigentlich war.

Dieser ungewollte Vergleich hat sich in mir festgesetzt: "Ok, ich bin gut, aber eben nicht gut genug."

Nein, meine Mutter hat das nie direkt zu mir gesagt und wahrscheinlich auch nicht mal gedacht. Doch ständig zu hören, dass ein anderer besser ist als man selbst, zu sehen, dass auch Mitschüler besser sind, die Mutter, die einfach ungefiltert nachplappert wie toll der Michael ist, das macht etwas mit der Seele eines Elfjährigen. Gerne würde ich mich daran erinnern können, dass ich einfach mal in den Arm genommen wurde und sie mir sagte, dass ich ein toller Mensch bin und sie stolz auf mich ist. Nicht auf meine Noten oder sonst etwas das ich gut gemacht habe. Einfach dafür, dass ich der bin der ich bin. Vielleicht hat sie das ja auch gemacht, doch erinnern kann ich mich nicht. Ich weiss, dass meine Mutter das nicht wollte, dass sie mich liebt und ich bin ihr dankbar, für alles was sie mir mitgegeben hat.

Dennoch hat sich in mir dieser der Gedanke festgesetzt, nicht gut genug zu sein.

Am Ende habe ich die Schule gewechselt und nie wieder wirklich viel gelernt. Lange Zeit fand ich es cool zu sagen: «Ein gutes Pferd springt nur so hoch wie es muss.»

Ich bin trotzdem meinen Weg gegangen. Er war oft steinig, aber das sollte wohl so sein. Und der Gedanke, nicht gut genug zu sein, verliert von Tag zu Tag an Bedeutung. Und gelernt habe ich auch etwas:

Wenn wir beitragen möchten, dass unsere Kinder und alle Menschen in unserem Umfeld glücklich(er) sind, dann sollten wir aufhören zu vergleichen. Wir sollten Ihnen nicht das Gefühl geben, etwas leisten müssen, um wertvoll zu sein.

Wir sollten das Gute und Einzigartige in ihnen sehen. Und wir sollten ihnen das immer wieder sagen. Wir sollten sie es spüren lassen.

 

Love, Peace & Happiness

Stephan

 

P.S.: Ach ja, und mit uns selbst sollten wir das auch tun. Denn auch wir sind schon toll, so wie wir sind ;-)

Zurück